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Offener Brief an Bundespräsident Dr. Alexander Van der Bellen

rman am Do., 01.03.2018 - 14:18
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Brief abgesendet
Antwort

Sehr geehrter Herr Bundespräsident Dr. Van der Bellen!

Die aktuelle Regierung beabsichtigt, die Notstandshilfe abzuschaffen. Dieser Umstand beunruhigt nicht nur mich, sondern alle Menschen in Österreich, die entweder bereits zur Gruppe der unmittelbar Betroffenen gehören oder sich im Klaren darüber sind, wie leicht man heute – aufgrund technischer und wirtschaftlicher Entwicklungen – für längere Zeit erwerbsarbeitslos werden kann.

Die Notstandshilfe ist ein vermögenswertes Recht im Sinne des 1. Zusatzprotokolls der Europäischen Menschrechtskonvention und damit ein Menschenrecht. (Womit die Jurisdiktion nur einer elementar menschlich-intuitiven Tatsache folgt.) Mit dieser geplanten Abschaffung von Menschenrechten betreibt die aktuelle Regierung eine gezielte Politik der Entsolidarisierung und (weiteren) gesellschaftlichen Verrohung. Wer kann sich so etwas wünschen?

Es geht in der Sache der Notstandshilfe nicht etwa um die Frage, wie lange ein Einzelner in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt hat – bevor er durch den Verlust seiner Erwerbsarbeitsstelle zum (längerfristigen) Versicherungsfall wurde. Bekanntlich ist es die Grundidee einer Versicherung, den Einzelnen im Schadensfall nicht allein zu lassen, unabhängig davon, wie lange er schon Versicherungsbeitragszahler war. Nichtsdestotrotz erdreisteten sich bisher einige Regierungsvertreter, tatsächlich das Ansinnen in den Raum zu stellen, dass Menschen zukünftig nur mehr zeitlich begrenzten Versicherungsschutz erhalten sollen! Dies führt die Grundidee einer Versicherung ad absurdum.

Durch die von der Regierung geplante Abschaffung der Versicherungsleistung Notstandshilfe werden Menschen zukünftig in die Mindestsicherung – eine Sozialleistung – gedrängt werden. Um in den „Genuss“ der Mindestsicherung zu kommen, ist jedoch zuvor jegliches Vermögen (bis auf einen äußerst bescheidenen Betrag) zu verwerten bzw. erfolgt im Falle des Vorhandenseins einer Immobilie, die dem eigenen Wohnbedarf dient, von staatlicher Seite eine Sicherstellung im Grundbuch. Dieser gesetzlich vorgesehene Ablauf liefert die Basis dafür, Armut auch noch für die Nachfolgegeneration festzuschreiben.

Sehen wir uns die Fakten an: Mit Stand Jänner 2018 standen in Österreich rund 455.000 Erwerbsarbeitslosen etwa 75.000 Erwerbsarbeitsstellen gegenüber. Nun bedarf es keiner hohen Rechenkunst, um festzustellen, dass es hunderttausende (!!) Österreicherinnen und Österreicher gibt, die gar keine Erwerbsarbeitsstellen bekommen können – weil diese schlicht und ergreifend nicht vorhanden sind. Darüber hinaus ist sogar zu erwarten, dass alleine aufgrund von Rationalisierung und Automatisierung (Digitalisierung) viele der jetzt noch bestehenden Erwerbsarbeitsstellen bereits in naher Zukunft wegfallen werden. Was sagt Ihr Gerechtigkeitsempfinden, Herr Bundespräsident?

  • Finden Sie es gerecht, dass die durch unfreiwillige Erwerbseinkommenslosigkeit ohnehin schon wirtschaftlich benachteiligten Menschen enteignet und in die Mindestsicherung und damit in die Armut gedrängt werden?
  • Ganz grundsätzlich: Finden Sie es gerecht, dass jemand sein Lebensbedarf deckendes Vermögen abgeben muss, wenn es keinen Erwerbsarbeitsplatz für ihn gibt?

Neben den moralischen Gründen gibt es auch noch gute gesetzliche Gründe, etwaige Gesetze zur Abschaffung der Notstandshilfe unbedingt abzulehnen. Das Ansinnen und Agieren der aktuellen Regierung bzgl. Abschaffung der Notstandshilfe legt den Schluss nahe, dass den Mitgliedern der aktuellen Regierung die gesetzlichen Grundlagen für Beschäftigungspolitik gänzlich unbekannt sind. An diese sei hier erinnert. Österreich hat das ILO Übereinkommen 122 ratifiziert und mit BGBl Nr. 355/1972 in den Gesetzesrang gehoben:

Artikel 1 1.

Um das wirtschaftliche Wachstum und die wirtschaftliche Entwicklung anzuregen, den Lebensstandard zu heben, den Arbeitskräftebedarf zu decken sowie die Arbeitslosigkeit und die Unterbeschäftigung zu beseitigen, hat jedes Mitglied [Mitgliedsland] als eines der Hauptziele eine aktive Politik festzulegen und zu verfolgen, die dazu bestimmt ist, die volle, produktive und frei gewählte Beschäftigung zu fördern.

2. Diese Politik muss zu gewährleisten suchen,

a. dass für alle Personen, die für eine Arbeit zur Verfügung stehen und Arbeit suchen, eine solche vorhanden ist;

b. dass diese Arbeit so produktiv wie möglich ist;

c. dass die Wahl der Beschäftigung frei ist und jeder Arbeitnehmer alle Möglichkeiten hat, die notwendige Befähigung für eine ihm zusagende Beschäftigung zu erwerben und seine Fertigkeiten und Anlagen bei dieser Beschäftigung zu verwenden, und zwar ohne Rücksicht auf Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Glaubensbekenntnis, politische Meinung, nationale Abstammung oder soziale Herkunft.

3. Diese Politik hat den Stand und die Stufe der wirtschaftlichen Entwicklung sowie die Wechselbeziehungen zwischen Beschäftigungszielen und anderen wirtschaftlichen und sozialen Zielen gebührend zu berücksichtigen und ist mit Methoden zu verfolgen, die den innerstaatlichen Verhältnissen und Gepflogenheiten entsprechen.

Artikel 2 J

edes Mitglied [Mitgliedsland] hat mit Methoden, die den innerstaatlichen Verhältnissen entsprechen und soweit es die innerstaatlichen Verhältnisse gestatten,

a. im Rahmen einer koordinierten Wirtschafts- und Sozialpolitik die Maßnahmen zu beschließen und ständig zu überprüfen, die zur Erreichung der in Artikel 1 angegebenen Ziele zu treffen sind; b. die Schritte zu unternehmen, welche für die Durchführung dieser Maßnahmen notwendig sein können, allenfalls einschließlich der Aufstellung von Programmen.

Artikel 3

Bei der Durchführung dieses Übereinkommens sind Vertreter der Personen, die von den beabsichtigten Maßnahmen betroffen werden, und insbesondere Vertreter der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer in Bezug auf die Beschäftigungspolitik anzuhören, damit deren Erfahrung und Meinung volle Berücksichtigung finden und damit ihre volle Mitarbeit bei der Ausarbeitung dieser Politik und somit die Unterstützung dieser Politik gesichert werden.

Ausgehend von den aus diesen Gesetzen resultierenden Pflichten der Regierung mutet die öffentliche Äußerung (in der ORF-Sendung „Report“ Anfang Jänner 2018) von Frau Sozialministerin Mag. Beate Hartinger-Klein äußerst befremdend an, in welcher sie erklärt, dass sie (entgegen den gesetzlichen Bestimmungen im ILO Übereinkommen 122 Artikel 3) die unmittelbar Betroffenen – also Erwerbsarbeitslose – nicht in miteinbeziehen will.

Völlig unerklärt bleibt von Seiten der Regierung auch, wie die geplante Abschaffung der Notstandshilfe (wodurch die betroffenen Erwerbsarbeitslosen enteignet und in die Mindestsicherung gedrängt werden) gewährleistet, dass (gemäß ILO Übereinkommen 122 Artikel 1) „für alle Personen, die für eine Arbeit zur Verfügung stehen und Arbeit suchen, eine solche vorhanden ist“. Herr Dr. Van der Bellen, was werden Sie tun, wenn Ihnen die aktuelle Regierung Gesetze zur Unterschrift vorlegt, welche die Beschäftigungspolitik betreffen? Werden Sie überprüfen, ob die Regierung bei der Ausarbeitung derartiger Gesetze die (durch ILO Übereinkommen 122) vorgegebenen Pflichten eingehalten hat? Oder werden Sie jedes Gesetz unterschreiben, ungeachtet dessen, wieviele Menschen in Österreich infolgedessen (durch Enteignung) ihrer Menschenrechte beraubt und in die Armut gedrängt werden?

Gerade kürzlich haben Sie beim UN-Menschenrechtsrat in Genf öffentlich Ihre Überzeugung geäußert, dass Österreich „einen wesentlichen Beitrag zur Förderung und zum Schutz der Menschenrechte leisten“ könne. Wie hier in aller Deutlichkeit ausgeführt wurde, würde eine Abschaffung der Notstandshilfe jedoch das vollkommene Gegenteil des Schutzes von Menschenrechten bedeuten. Schutz und Achtung der Menschenrechte ist die Basis für ein menschenwürdiges und friedvolles Miteinander.

All diejenigen Österreicherinnen und Österreicher, denen dies bewusst ist, vertrauen darauf, dass Ihr persönlicher moralischer Kompass noch funktioniert und Sie Ihrer Überzeugung entsprechende Taten folgen lassen, wenn es zu Gesetzesvorlagen zur Abschaffung der Notstandshilfe kommen sollte!

Mit freundlichen Grüßen,

 

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