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Verpasste Geschichten

Aktiver Admin am So., 01.01.2017 - 19:57

Seit Verstossung aus dem Garten Eden wird Adam mit Blutegeln behängt und zu Ader gelassen. Getröstet vom Erz-Engel Guido Westerwelle, das Blut sei ja nicht weg, das habe jetzt nur jemand anders. Jemand, der die prall gefüllten Blutegel abnimmt, nach Lichtenstein oder Panama bringt und neue ansetzt. Könnte als kurze Geschichte erzählt werden. Beginnend etwa mit: Und das kam so. Nur, wie geht’s dann weiter? Wie lang? Mit welcher Message? Was will uns die Geschichte damit sagen? Tragisch? Komisch? Happy End?

Wie schaut denn der Adam aus, der Protagonist, welche unverkennbaren master-traits zeichnen seine Persönlichkeit aus, in welchen Beziehungen lebt er? Ist Eva noch sein Weib, oder ist auch er schon geschieden und doch wieder mit Lilith zusammen? Leben seine Söhne Kain und Abel schon oder noch? Wer ist Antagonist? Wer oder Was das dritte Element im dramatischen Dreieck? Gibt es überhaupt einen Konflikt? Oder nur Konsens? Der Plot. Ist ein Plot nötig? Irgendwie schon. Oder kann er vermieden und umgangen, weggelassen werden? Reichen Persönlichkeitsanalysen der Beteiligten, wenn ja, in welcher Reihenfolge, damit sich allein aus ihnen und ihrer Konstellation zwingend ein einziger, möglicher Plot ergeben müsste, auf dessen Beschreibung in linearem, chronologischem Ablauf deswegen verzichtet werden kann?

Ort ist schnell beschrieben. Vor dem Tor des Gartens Eden, über dem in Majuskeln EXIT ONLY prangt. Auf der Schwelle steht Erzengel Guido Westerwelle. Auf der Mauer neben ihm das Werk eines Sprayers. Eine Sprechblase, in der steht: Das Blut ist ja nicht weg, das hat jetzt nur jemand anders. Vor ihm Adam. Mit der Linken hält er sich ein Feigenblatt vor seine Blösse, mit der Rechten zeigt er auf einen der vielen dicken Blutegel, mit denen sein Leib bedeckt ist. Hinter ihm ein Wurmloch in die Zukunft, vor dem ein Manager in Nadelstreifen mit zwei Ärzten in weissen Kitteln. Beide mit Kühlboxen. Einer von ihnen geht mit seiner Kühlbox, auf der Panama steht, in das Wurmloch hinein, der andere entnimmt seiner offenen Boxe mit einer grossen Pinzette einen dünnen Blutegel.

Auch Persönlichkeitsanalysen erübrigen sich. Die Szene an sich ist ja schon eine, ausreichend für alle darin vorkommenden Personen. Ein gewisses Unbehagen macht sich bemerkbar. Das ist ja eine geschriebene Karikatur, keine Geschichte. Weder Eva, reife Charakter-Darstellerin oder Sex-Symbol?, noch Abel als Nebendarsteller werden in heldenhafter Action von Adam vor demAntagonisten in Haupt- und Kain in Nebenszene gerettet. Nein, halt, Abel kann nicht gerettet werden. Er muss dem Drehbuch zum Opfer fallen. Tragisch, aber die nötige Niederlage von Adam, aus der er umso triumphaler wieder aufstehen und siegen kann, durch die anschliessende Rettung von Eva vor dem Manager und den Medizinern mit den Blutegeln. Also doch ein Plot, wenigsten die erste, grobe Skizze eines solchen, nach kommerziell erprobtem Erfolgsmuster. Casting. Wie wäre es mit Johnny Depp als Adam? Er hat noch keinen Oscar. Die Rolle müsste es doch bringen. Aber wer wird denn gleich an die Verfilmung denken? Erst muss die Geschichte her.

Mit ausreichend Rücksicht auf Sponsoren. Beginnend mit Adam und Eva im Bett, vor dem die Feigenblätter mit gut erkennbaren Labels liegen. Genügend Raum für die ersten Produkt-Platzierungen. Er fängt wieder mit dem Apfel an. Sie schnappt sich wütend ihr Feigenblatt und verschwindet im Bad. Singt dort den Titelsong über die Vorzüge des Lebens in freier Zivilisation gegen das im Garten Eden eingesperrte. Welche Sängerin eignet sich dafür?

Kain und Abel schmusen derweil miteinander und besprechen die nächste Adaption. Irgendwie musste die Menschheit ja aus zwei männlichen Nachkommen von Adam und Eva hervorgehen. Also adoptierten sie auch Mädchen. Ob das nächste Kind wieder ein Mädchen oder doch wieder ein Bub sein sollte? Aus dem Katalog oder zur Abwechslung von einer Leihmutter zur Welt gebracht? Wenn ja, mit wessen Sperma? Abel will unbedingt seine Gene vererben. Kain beschuldigt ihn eifersüchtig, in Wahrheit ein Hetero zu sein. Darüber geraten sie in Streit, Adam hört es, kommt aber zu spät und Abel stirbt in seinen Armen.

Hinter ihm öffnet sich das Wurmloch, und der Manager Mr. Standard kommt mit dem Juristen Mr. Poors heraus, der ihm einen Vertrag vorlegt, mit dem Kain der Verfolgung durch die Justiz entgeht, und die Erziehung der adoptierten Kinder und ihrer Nachkommen auf ewig sichergestellt.Gegenleistung regelmässiger Aderlass durch Blutegel. In kleingedruckter Klausel der Entwicklung des Marktes angepasst auch in zunehmender Zahl. Adam unterzeichnet, der Jurist mit dem Vertrag ab ins Wurmloch, zwei Mediziner in weissen Kitteln, die sich als Dr. Lehman und Dr. Brothers vorstellen, treten mit Kühlboxen heraus.

Wie soll die Geschichte bloss im kommerziell erprobten Erfolgsmuster weiter gehen? Überholt.

Viel zu spät. Unterdessen wurden Cypern und die EU geplündert, Grexit verhindert, der arabische Frühling im Spätherbst, Flüchtlinge dominieren die Headlines. And who the fuck is Guido Westerwelle? Jetzt steht er da, wie doof, der Adam, mit seinen Blutegeln behängt. Auf der Schwelle zum Garten Eden steht ein IS- Terrorist mit Sprengstoffgürtel und Kalaschnikow, hinter ihm tanzen 70 Jungfrauen den Original-Schleiertanz der Salome, die Blutegel werden ihm wegen Ärztemangel nach Personaleinsparungen in der öffentlichen Medizin von einem Asylwerber abgenommen und neu angesetzt, und überhaupt ist Adam im falschen Film. Das Thema Ausbeutung interessiert kein Schwein mehr, ist längst stillschweigend etabliert, die Blutegel auch längst nicht mehr schwarz, sondern gentechnisch verändert, patentiert, knallbunt und mit Logo des Lieferanten.

Wem soll heute noch so eine sozialkritische Satire verpasst werden? Sie passt nicht mehr. Adam ist halt mit Blutegeln behängt und wird zu Ader gelassen. Ja und? Immer noch besser, als zurück in den Garten Eden, der schon überfüllt mit Märtyrern und den Jungfrauen, die jedem zustehen. Also Schwamm drüber.

Geschichte ist voll mit verpassten Geschichten. Es geht nicht um Geschichten und irgend einen Plot. Es geht nur noch um die jeweilige Mode der Persönlichkeitsanalysen und die Kombination zufällig zusammen gewürfelter Persönlichkeiten die avantgardistisch und trendsetzend in einen Topf geworfen werden. In dem plotten sie dann in ihren quasi automatischen chemischen Reaktionen aufeinander von selber, die Urenkel Adams. Dass sie zu Ader gelassen werden, mit Blutegeln bedeckt wie der Urvater vor dem Tor zum Garten Eden, interessiert dabei selten, und wenn, nur am Rande. Darf nicht breitgewalzt werden. Das wäre kommunistische Agitation, und die mag man nicht. Ist seit Montag dem Achten, dem ersten Tag nach der Schöpfung, verpöntes Thema, zensuriert, Tabu.

Publikum oder Leser wollen sich nicht in einer Persönlichkeitsanalyse in einer Geschichte wieder erkennen, in der ihnen in ganz alltäglichen Abläufen vor Augen geführt wird, wie ihnen organisiert und juristisch korrekt Blutegel angesetzt, Vollgesaugte von ihnen geerntet und nach Lichtenstein oder Panama verfrachtet werden. Das muss doch so sein und heisst auch ganz anders. Nur als Kriminalität oder organisierte Kriminalität wird es wie die Verstaatlichung der Hypo hingenommen.

Dass es auch im legalen alltäglichen Kommerz stattfindet, wird elegant verkleidet und maskiert. Die ganze Wirtschaft ist auf dem Aderlass aufgebaut. Karl Marx hat ihn in einem unverständlichen Murks, Das Kapital, beschrieben, den kaum jemand als Beschreibung des organisierten und legalisierten Ansetzens und Erntens von Blutegeln erkannte. Mit schönreden in politischen und juristischen Phrasen heute als kulturelle Errungenschaft hochgelobt. Und auch keine Kirche ist ohne Opferstock, ohne fromme Blutegel.

Hitler, ja gut, Hitler hat gleich die ganze Welt zu Ader gelassen, mit seiner Massentherapie. Wie vor ihm schon Kaiser Franz Josef und Kaiser Wilhelm. Die Therapie wirkte und führte über den kalten Krieg zur Gründung der Europäischen Union. Kein Massen-Aderlass mehr. Moment, das stimmt so nicht ganz. Die Blutegel sind heute nur anders eingesetzt. Gegenleistung für Befriedigung künstlich erschaffener Bedürfnisse, die vorher niemand kannte, jetzt aber dringendes Bedürfnis sind, weil sie Arbeitsplätze schaffen. Wie viele, zeigen unübersehbar wachsende Schlangen vor Arbeitsämtern und Jugendarbeitslosigkeit wie in Spanien, Frankreich, Italien oder Griechenland. Korrelierend wachsen die Deponien der prall gefüllten Blutegel in Liechtenstein und Panama.

Das Blut ist ja nicht weg, das hat jetzt nur jemand anders. Jemand, der es auf Deponien herum liegen lässt und dort anhäuft. Dass es denen in den Schlangen vor den Arbeitsämtern fehlen könnte, wird öffentlich laut bestritten, jeder dort ist ganz allein selber schuld, mehr noch, wird als unnützer Parasit, Penner in der sozialen Hängematte, als Blutsauger verurteilt.

Saugen die Blutegel nur, oder spritzen sie auch Substanzen in den Kreislauf ein? Psychoaktive, bewusstseinsverändernde und persönlichkeitsverändernde Substanzen? Wie soll das je ermittelt werden? Nicht nur die Persönlichkeiten verändern sich. Auch die Moden und Methoden derPersönlichkeitsanalyse verändern sich. Eine sich ständig verändernde Grösse wird mit einem sich ständig verändernden Masstab gemessen. Das Resultat, obwohl es sich ständig verändert, als feststehender, wissenschaftlich ermittelter harter Fakt präsentiert, auf dessen Grundlage weitere Entwicklungen in globaler freier Marktwirtschaft und Politik in grotesker Gespaltenheit geplant werden.

Einerseits wird Persönlichkeitskult betrieben, subjektive Persönlichkeit als das eine, aktive und handelnde Element hochgelobt. Anderseits sind es Sachzwänge, Sachen, die unpersönlich und objektiv handeln und ohne dass auch nur eine einzige Persönlichkeit dafür Verantwortung trägt alternativlose Reaktionen erzwingen. Es geschieht einfach, was geschieht, ohne dass sich eine Persönlichkeit im Geschehen auswirkt. Erfolg hat viele Väter, Misserfolg ist ein Waisenkind, drückt aus, wie Persönlichkeit mit Verantwortung umgeht.

Persönlichkeit hat jeder Mensch, jeder Ur-Enkel von Adam. Persönlichkeit pfiff einmal Schlager in den Gassen. Heute hängt der Persönlichkeit ein Blutegel, der aussieht wie ein Kopfhörer, im Ohr, und das Pfeifen ist ihr vergangen. Stattdessen labert sie in einen anderen Blutegel, der aussieht, wie ein Mikrophon. Ein Plot? Welcher Plot? Ein Plot erübrigt sich. Es geht ja um nichts. Ein Apparat, der automatisch funktioniert. Was für einen Plot sollte so ein Apparat generieren? Der Apparat rattert automatisch um seiner selbst willen. Automatisch werden volle Blutegel geerntet, vom Ernte-Automaten, als automatische Konto-Abbuchungen über vorteilhafte Lastschrift-Mandate, und automatisch neue Blutegel angesetzt. Wo ist da ein Plot?

Da sitzt kein Nassauer mehr auf dem Marktplatz, erzählt den Lauschenden Märchen und lässt dann seinen Hut rundum gehen. Die Nassauer erzählen ihre Märchen dem Apparat, der stellt gentechnisch veränderte, bunte Blutegel mit dem Logo darauf her, setzt sie an, sie spritzen Märchen ein, saugen Blut aus, der Aderlass läuft in gesetzlich geordneten Bahnen, lässt automatisch märchenhafte Kurven auf den Bildschirmen der Börsen erscheinen.

Persönlichkeitsanalysen macht auch der Apparat. Ganz automatisch. Und nicht nur die Analysen. Er bildet auch die Persönlichkeiten. Automatische Persönlichkeitsbildung. Sag mir, welche Blutegel an dir hängen, und ich sag dir, wer du bist. Ab und zu werden Persönlichkeiten entsorgt, denen eine Spritze aus der Vene im Ellenbogen raushängt. Ein tödlicher Aderlass durch den Blutegel, der noch an ihr hängt. Der Apparat hat dieser Persönlichkeit automatisch diesen Blutegel angesetzt. Für diese Persönlichkeit diese Spezies von Egel. So wurde diese Persönlichkeit vom Apparat gebildet.

Automatisch. Wie das genau und im Detail abläuft, weiss keine Persönlichkeit. Weder die mit der Spritze in der Ellenbogenvene, die diskret entsorgt wird, noch die mit dem lauten und bilderreichen Persönlichkeitskult um sich. Die eine automatisch ein Waisenkind, niemand ist verantwortlich, die andere bedankt sich bei jeder Gelegenheit öffentlich bei ihren vielen Vätern. Mein ganz spezieller Dank geht an die Persönlichkeiten so und so, ohne deren Vaterschaft ich nicht die Persönlichkeit geworden wäre, die ich heute bin. Was für ein Gang-Bang muss da abgelaufen sein. Ist da doch ein Hauch von Plot erkennbar?

Oder ist ein Hauch von Plot in der kurzen Szene in der vollgestopften Strassenbahn? Eine Mutter steigt mit ihrem Schulbuben ein. Er setzt sich auf den Sitz am Gang einer frei gewordenen Sitzreihe.

Sie steht einen Augenblick erstaunt neben ihm, stösst ihn dann leicht an der Schulter an. Er blickt ruckartig sichtbar verärgert hoch, dann wird sein Gesicht wieder entspannt und ausdruckslos, er rutscht auf den Fensterplatz hinüber und macht den Sitz frei für seine Mutter, die sich wortlos neben ihn setzt.

2 oder 3 Sekunden. Und was soll das jetzt mit Persönlichkeitsanalyse und Persönlichkeitsbildung zu tun haben? Was mit den angesetzten Blutegeln, die an den Beteiligten hängen? Was mit dem Topf, in den man Persönlichkeiten hinein wirft, dann plotten sie schon von selber in quasi automatischer chemischer Reaktion? Soll sich jeder selber zusammen reimen.

Ruckartig sichtbar verärgertes Hochblicken. Wortloses Setzen. Eine verpasste Geschichte. Eine der vielen Geschichten, die in der Geschichte verpasst werden. Eine Geschichte, die von den Ur-Enkeln Adams verpasst wird. Die Ur-Enkel Adams verpassen sich seit der Vertreibung aus dem Garten Eden. Verpassen sich ihre Geschichte. Verpassen sich ihre Persönlichkeiten, die sie in modisch wechselnden Methoden der Persönlichkeitsanalyse und Persönlichkeitsbildung verpassen. Um was geht es eigentlich? Um verpasste Geschichten, die dennoch, oder deswegen, Geschichte schreiben?

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