Dokumentarfilm des österreichischen Filmemachers Nikolaus Geyrhalter, der zwischen 2004 und 2014 im österreichischen Waldviertel gedreht wurde. Der Film begleitet mehrere Protagonisten über die Spanne von zehn Jahren.
Die Anderlfabrik im niederösterreichischen Waldviertel steht 2004 kurz vor der Schließung. Wo einmal über 200 Menschen gearbeitet haben, sind nur noch einige wenige geblieben. Als die Fabrik letztendlich schließt, begleitet Nikolaus Geyrhalter die ehemaligen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen bei der Neuorientierung. In einer Gegend, in der Arbeitsstellen rar sind, erfordert die Suche nach neuer Erwerbsarbeit vor allem Flexibilität. Einige schaffen es, eine der wenigen Stellen zu bekommen, andere blühen in der Arbeitslosigkeit durch die zusätzliche Freizeit erst richtig auf. Geyrhalter fragt die Protagonisten und Protagonistinnen nach ihrem Befinden, begleitet sie zu ihren Hobbys und dokumentiert, welche Wege Menschen in der Arbeitslosigkeit gehen. Geyrhalter schafft so einen Film über Menschen, Arbeit und das Überleben im postindustriellen Zeitalter.
Filminhalte:
Die Anderlfabrik in Kleedorf ist eine Textilfabrik im Waldviertel, in der offensichtlich die Zeit stehengeblieben ist. Der Besitzer, weit über 70, soll hier mit musealen Maschinen und den letzten der ehemals 300 Mitarbeiter traditionelle Stoffsorten produzieren, die der Markt immer weniger abnimmt.
PROTAGONSTIN 1
Die Sekretärin der Anderlfabrik wird nach ihrer Kündigung zuerst mehr zur Hausfrau, hat mehr Zeit für Kinder, Mann und Hobbys. Auf Anraten ihrer Freundinnen veranstaltet sie Küchengerätdemonstrationen auf Partys. Zuerst macht sie das nur im engsten Freundeskreis, später dann auch auf anderen Partys mit ihr unbekannten Personen. Dazu fährt sie kreuz und quer durchs Waldviertel.
Die ehemalige Sekretärin bekommt später einen Job im Büro einer Firma, die mit Steinen aus einem Waldviertler Steinbruch handelt. Ihre Tätigkeit besteht vor allem darin, die Papiere den LKW-Fahrern zu überreichen, nachdem sie die LKW-Waage passiert haben.
Jahre später, offensichtlich schon in Pension, geht sie mit ihrem Mann eine lange Stiege hinauf zu einer langen brückenartigen Aussichtsplattform, von der aus nur die Baumwipfel eines Waldes zu sehen sind. Oben lässt sie die vergangenen zehn Jahre noch einmal Revue passieren und bricht dann in einen Weinkrampf aus, weil sie sich und ihr Mann daran erinnern, dass im Zeitraum nach dem letzten Interview ihr Sohn bei einem Autounfall tödlich verunglückte.
Ganz zum Schluss des Films ist sie in einem einfachen Tanzraum zu sehen, wo ausschließlich Frauen zu Rock- und Popmusik tanzen. Der Auftritt ist musicalmäßig und choreographisch einstudiert.
PROTAGONST 2
Ein sehr wortkarger Mann wird interviewt. Er macht in der Anderlfabrik die Buchhaltung, wohnt bei seiner Mutter und hat zu Hause eine Katze. Die Frage des Regisseurs nach einer Beschreibung seines Arbeitstages beantwortet er mit einer Nichtbeschreibung. Er findet einfach keine Worte. Die Frage nach seinen Hobbys hingegen kann er beantworten. Er hat zu Hause 800 CDs und Musikcassetten, vorwiegend deutsche Schlager und volkstümliche Musik. Die Liedertexte schreibt er oft nieder. In seiner Arbeitslosigkeit hat er begonnen, seine CD-Sammlung zu archivieren und inventarisieren, auf Papier und handschriftlich. Später beginnt er, alles in einen Computer zu übertragen, den er von seinem Schwager bekommen hat. Sein Schwager hat sich einen moderneren Computer gekauft und ihm seinen alten PC mit klobigem Röhrenmonitor geschenkt. Mehr als 14.000 Titel hat er alphabetisiert und in den Computer übertragen. Und 1.800 Liedtexte dazu.
Zwei Jahre nach der Kündigung wird er gefragt, ob er sich zwischenzeitlich Arbeit gesucht hat. Der wortkarge Mann verneint diese Frage mit der Begründung, dass es zu Hause genug Arbeit gibt. Zwei Jahre (!) hat er also über das AMS keine Arbeit gefunden. Da er noch mit Holz heizt, hackt er Holz, gräbt im Wald Baumwurzeln und Baumstöcke aus, fährt dazu mit zwei anderen Männern auf dem Traktor mit Anhänger mit, und archiviert seine CDs und MCs.
Nach zehn Jahren ist er bereits in Pension, kocht für seine Mutter und isst das weg, was seine Mutter nicht mehr essen mag. Außerdem hat er angefangen, Gedichte zu schreiben. Er liest ein Gedicht über seinen Alltag vor, worin zum Ausdruck kommt, dass er immer noch genug Arbeit rund um Haus und Wald hat.
PROTAGONST 3
Eine Frau in der Anderlfabrik packt Stoffwindeln in Zellophanpapier ein. Sie sagt aber, dass alle nur mehr Pampers kaufen, obwohl sie viel teurer sind. Die Stoffwindeln kann man waschen und bügeln, aber Pampers ersparen viel Zeit. Sie selbst habe zu dem Zeitpunkt auch schon nur mehr Pampers gekauft.
PROTAGONST 4
Ein Mann und seine Frau haben nach der Schließung der Anderlfabrik mehr Zeit für die Kinder. In der Zeit der Arbeitslosigkeit gibt es im Waldviertel einmal Hochwasser und ihr Haus wird ebenfalls überschwemmt. Es ist nur mit Gummistiefeln zu betreten, nachdem das Hochwasser zurückgegangen ist.
Jahre später, nunmehr in Pension, sei der Mann grantig geworden, sagt seine Frau vor der Kamera. Beide gehen an einem Teich mit ihrem Hund spazieren.
PROTAGONST 5
Eine Frau und ihr Mann haben in der Arbeitslosigkeit begonnen, ihre Enkeln großzuziehen, nachdem diese ihrer Mutter weggenommen wurden bzw. diese ihre Kinder hergab. Der Bub und das Mädchen sind leicht behindert. Der Mann wühlt in einem Altmetallcontainer, um mit ein paar gesammelten Aludosen das geringe Einkommen aufbessern zu können. 40 bis 50 Euro bringen die Aludosen im Monat ein. Nach zehn Jahren ist die Familie im Publikum bei einem Autorennen zu sehen. Auf die Frage, wie die letzten Jahre waren, antworten sie, dass es gute und schlechte Jahre gab.
PROTAGONST 6
Der alte Besitzer der Anderlfabrik sagt vor der Kamera in Anwesenheit seiner Frau, dass ja nicht er in Konkurs gegangen sei, sondern seine Firma als Rechtsperson.
Später ist der alte Besitzer drei Monate nach einem Schlaganfall verstorben.
PROTAGONST 7
Ein Mann wurde in seiner Arbeitslosigkeit krank und musste operiert werden. Als er in das Krankenhaus ging, musste er am Tag eine Tablette nehmen, als er herauskam, hatte er dreizehn Tabletten zu nehmen.
Auf die Frage, was sich seit der Grenzöffnung geändert hat, antwortet er, dass er nur einmal in Tschechien einkaufen war und nie mehr wieder, weil die Qualität der Produkte und des Essens dort so schlecht sei. Die Tschechen, so erzählt er weiter, kämen nach Österreich, um gutes Essen zu kaufen, und die Österreicher fahren nach Tschechien, um nur „Zeug“ („Glumpat“, „Kraffl“) zu erwerben.
Nach zehn Jahren ist er schon in Pension und bastelt eine Puppenwiege für sein Enkerl. Dabei fällt ein Werkzeug auf den Boden und der Mann meint zum Regisseur: „Des is lei passiert, weil du do bist!“
Auf die Frage, ob das AMS etwas gebracht hat, ist seine Antwort: „Einen Kurs habe ich machen müssen, weil das AMS hat ja sonst keinen gehabt, den sie zum Kurs hätten schicken können.“
PROTAGONST 8 und 9
Ein Mann hat zwei Jahre nach der Schließung der Anderlfabrik in einem Steinbruch Arbeit gefunden, wo er mit einem schweren Bohrer und Ohrenschützer seine Arbeit verrichtet.
Ein anderer Mann ist in der Zeit der Arbeitslosigkeit bei der freiwilligen Feuerwehr und hilft bei den Aufräumungsarbeiten nach dem Hochwasser.
Der Film zeigt auf unspektakuläre, aber eindringliche Weise, wie Menschen in einer wirtschaftlich schwachen Region trotz mangelnder Erwerbsarbeit und finanzieller Nöte von sich selbst aus ins Tun kommen. Zwar zeigen die Protagonisten und Protagonistinnen des Films Resignation im Hinblick auf die wirtschaftliche Lage und die Arbeitsvermittlung durch das AMS und sind auch durch finanzielle Nöte geprägt. Die Selbstverständlichkeit aber, dass es immer etwas zu tun gibt – seien es Holzschlägerungsarbeiten, Noteinsätze bei Hochwasser, Organisationstätigkeiten für ein Feuerwehrfest, die Erziehung der Enkel oder die Pflege der alten Mutter und vieles mehr – und die Umsetzung dieser Aktivitäten treibt die Menschen jedoch an und bestärkt sie in ihrem Dasein für sich und andere.
Stefan Risto/Andrea Bugge
Filmhomepage: http://www.geyrhalterfilm.com/ueber_die_jahre