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Willkommen im Arbeitslager Europa

Aktive Arbeits… am Mi., 13.11.2019 - 15:57

Das neoliberale Aktivierungs- und Arbeitszwangregime der Europäischen Kommission

Ungekürzter Beitrag von Martin Mair für die Zeitschrift "streifzüge" Heft 77, Winter 2019 "Europa"

Bereits bei ihrer Gründung 1993 hatte die EU steigende Erwerbslosenzahlen aufzuweisen. Auch wenn auf den ersten Blick keine Aktivitäten der EU zu sehen waren, weil die EU in der Sozialpolitik keine Regelungskompetenz hat, so war doch im Laufe der Jahre in vielen Staaten eine ähnliche Entwicklung fest zu stellen: Statt den Staat in die Verantwortung zu nehmen für die ausreichende Zahl von Arbeitsplätzen, für die Aufteilung der Arbeit durch Arbeitszeitverkürzung oder gar den Aufbau alternativer Beschäftigungsfelder zu forcieren, war wie aus dem Nichts in vielen Staaten ein Dogmenwechsel festzustellen. Bei der abrupten Einführung von Hartz IV zeigte sich das 2004 am deutlichsten.

Die Blaupause für die Politik lieferte die „OECD Jobs Strategy“ von 1996 die 1997 von der dänischen Präsidentschaft unter dem Schlagwort der „Aktivierung“ propagiert wurde.

Folgende Grundannahmen oder Glaubenssätze dahinter:

  • Lohnarbeit ist das beste Mittel gegen Armut.

  • Der Arbeitsmarkt ist unflexibel – Sozialsystem und Arbeitnehmerrechte sind ein Hindernis.

  • Wachstum fördert Beschäftigung – Beschäftigung fördert Wachstum.

Aus der alten „aktiven Beschäftigungspolitik“ der 80er Jahre wurde die „aktivierende Arbeitsmarktpolitik“.

  • Grund für Arbeitslosigkeit sind nicht mehr fehlende Arbeitsplätze, sondern dass die Chancen des freien Marktes nicht genutzt würden.

  • Statt der Politik ist nun jeder einzelne Mensch als Marktteilnehmer selbst für sein Schicksal verantwortlich.

  • Statt der Solidarität aller (Arbeitszeitverkürzung), gilt nun die Eigenverantwortung im Wettbewerb, die Differenzierung als höchster Wert.

  • Aus dem „Recht auf Arbeit und soziale Sicherheit“ wird unter dem Motto „kein Recht auf Faulheit“ die Pflicht sich durch Betreuer fördern und fordern zu lassen.

  • Statt bei Mangel an „Arbeitskräften“ nach dem Pull-Prinzip Lohn zu erhöhen, herrscht das Push-Prinzip in Form von noch mehr Druck.

  • Statt Vermittlung in volle und regulär bezahlte Arbeit am „ersten Arbeitsmarkt“ gilt bereits verbesserte Arbeitsmarktnähe, prekäre Leih- oder Teilzeitarbeit oder Arbeit am „zweiten Arbeitsmarkt“ als Erfolg.

Was nicht in Frage gestellt wird, aber geradezu eskalierend verschärft wird, ist, dass „Integration“ nur durch Erwerbsarbeit (Arbeitszwang) möglich sei, Arbeitslose keine eigenständige politischen Akteure sind (keine Vertretung) und natürlich, dass das kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystem mit dem Wachstumszwang keinesfalls in Frage gestellt werden darf. Als Ausgleich wird „Decent Work“ in Aussicht gestellt („Soziale Säule“).

Was seither mehr oder weniger zumindest in den Kernstaaten der EU festzustellen ist:

  • Verringerung des Bezugsdauer und Senkung der Bezugshöhe.

  • Verschärfung des Sanktionenregimes.

  • Verschlechterung der Kriterien für „zumutbare Jobs“, prekäre Arbeit wird zumutbar.

  • Ausbau des „zweiten Arbeitsmarktes“ mit reduzierten ArbeitnehmerInnenrechten („Workfare“).

  • Auslagerung von Aufgaben an private, gewinnorientierte Agenturen – „Kursindustrie“, teilweise sogar börsennotiert!

Damit es keine Ausweichmöglichkeit gibt, werden die Bereiche des „Sozialstaates“ enger verzahnt:

  • Anbindung der Sozialhilfe an das verschärfte Regime der Arbeitsagentur.

  • Verschärfung des Zugangs zur Invaliditätspension, selbst Behinderte werden „fit 2 work“ erklärt (GB).

  • Verschlechterungen bei der Alterspension, Erhöhung des Pensionsalters.

  • Verstärkte Datenerhebung und automatischer Datenaustausch.

  • Förderung privater Sozialversicherungen (Pensionsvorsorge).

  • Verringerung von Freiräumen und Ausstiegsmöglichkeiten.

Aus grundlegenden, auch kollektiven Menschenrechten werden individuelle Pflichten:

  • aus „Jeder Mensch ist gleich an Rechten und Würde geboren und hat daher das Recht auf frei gewählte gute Arbeit“ wird „der Mensch erlangt seine Würde erst durch die Arbeit. Arbeit um jeden Preis ist Bürgerpflicht“.

  • Statt Recht auf Gesundheit und freie Behandlungswahl wird die Pflicht zum Erhalt der „Arbeitsfähigkeit“ und Zwangsrehabilitation mit Case-Management.

  • Aus Unschuldsvermutung wird Schuldvermutung: An der Arbeitslosigkeit ist der Arbeitslose schuld, Defizitorientierung („Vermittlungshindernisse“ = individuelle Schuldzuschreibung).

  • Einschränkung der Privatsphäre und des Selbstbestimmungsrechts.

  • Tendenz zur Ersetzung festgelegter Rechte und Pflichten durch „Vereinbarungen“ auf ungleicher Machtbasis.

  • Höhere Hürden beim Rechtszugang.

Die fehlende Regelungskompetenz der EU wird 2000 als Teil der Lissabon Strategie durch die „Open Method Coordination“ ausgeglichen. Geradezu krebsartig wuchern die Agenturen, die Konferenzen, die Untersuchungen und Berichte mit denen EU Staaten gelobt oder gerügt werden, „Best Practices“ und Begriffe wie „Jumpboard into the Labour Market“ ausgetauscht, im „Europäischen Semester“ werden gar planwirtschaftlich höhere Erwerbsquoten speziell für am Markt benachteiligte Gruppen wie Frauen, Ältere und Migrantinnen vorgeschrieben.

Weil außerhalb der EU-Kernstaaten, vor allem in den romanischen Staaten, die Aktivierungsindustrie noch nicht so zum Zug kommt, hat die Europäische Kommission 2016 sogar eine Öffentliche Konsultation betreffend der Dienstleistungen für Langzeitarbeitslose gemacht. Natürlich nur in Englisch, für die ExpertInnen. In der befürsorgenden Sozialwirtschaft werden potentiell kritische Akademiker*innen, oft auf prekärer Projektbasis, gebunden und als vermeintliche Helfer*innen zu Wärter*innen über Arme und Erwerbslose gemacht.

Die Folge der EU Politik: Alle Menschen werden im Namen des Wirtschaftswachstum und der Armutsbekämpfung auf den Arbeitsmarkt gedrängt, und zwar um jeden Preis. Möglichst alle Lebensbereiche, gerade auch die aus Sicht des Kapitals unproduktiven, werden mit Unterstützung des „Sozialstaates“ in schlecht bezahlte, prekäre Erwerbsarbeit umgewandelt. Die Dienstboten- und Tagelöhnergesellschaft (gemeinnützige Personalüberlasser, überregionale Zwangsvermittlung in Tourismus-Saisonjobs) kommt wieder.

Gemäß kapitalistischer Marktlogik sinkt dann der Preis der Arbeit. So wie in Hartz IV Deutschland, wo prekäre, nicht nach Kollektivvertrag entlohnte Billiglohnsektoren massiv zunehmen. Auf Kosten der noch lohnarbeitenden Versicherten und Steuerzahler*innen wird die vom Staat subventionierte und überwachte Arbeit – die Verfolgungsbetreuung samt Datenerfassung geht auch nach Arbeitsaufnahme weiter! – für Unternehmen billig wie Dreck und geradezu nachgeworfen. Die Arbeitsagenturen helfen so, reguläre, nach altem Schema bezahlte Arbeit durch billigere zu ersetzen. Unternehmen feiern sich sogar öffentlich als Wohltäter, wenn sie die hoch subventionierten Ladenhüter dank Rücknahmegarantie ohne Risiko für sich billig arbeiten lassen!

Alle Stakeholder sind am Gewinn versprechenden Geflecht der aktiven Arbeitsmarktpoltik beteiligt und haben eigene Lobbygruppen in Brüssel. Alle? Bis auf die Betroffenen selbst; die Erwerbsarbeitslosen. Ressourcen für eine EU weite Vernetzung bekommen die Arbeitsloseninitiativen nicht. Die Hürden für Projektförderungen sind zu hoch. Dafür gibt es als Feigenblatt der Sozialbranche von der EAPN einmal im Jahr in Brüssel wohl organisierte Treffen wo Politiker sich ausgesuchte Vorzeigearme anhören können.

Alles fernab der Kontrolle durch das Europäische Parlament. Die politische Verantwortung verschwindet im von den Lobbyistengruppen bearbeiteten Institutionengeflecht. Nicht einmal die Europäische Grundrechteagentur darf wenigstens einen kritischen Blick in Form von Untersuchungen und Berichten auf den Stand der „Sozialen Menschenrechte“ in der EU werfen. Wie wunderbar. Das Soziale ist das was über bleibt, wenn überhaupt …

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