Jenseits einer gewissen Schwelle führt die Vermehrung der Waren zur Ohnmacht - zur Unfähigkeit, die eigene Nahrung zu erzeugen, zu singen oder ein eigenes Haus zu bauen. Leid und Lust der menschlichen Existenz werden zum schrulligen Privileg, das einigen Reichen vorbehalten bleibt.
Bevor Kennedy seine Allianz für den Fortschritt begründete, gab es in Acatzingo, wie in den meisten mexikanischen Dörfern dieser Größe, vier Musikantengruppen, die für ein Glas Wein aufspielten und eine Bevölkerung von achthundert Menschen unterhielten. Heute erdrücken die über Lautsprecher dröhnenden Schallplatten und Radios die lokalen Talente. Hin und wieder veranstaltet man in einer nostalgischen Anwandlung eine Sammlung, um an einem besonderen Feiertag ein paar Dropouts von der Universität einzuladen, damit sie die alten Lieder singen. An dem Tag, als Venezuela das Recht jedes Bürgers auf 'Wohnung', und zwar als Ware verstanden, gesetzlich verankerte, stellten drei Viertel aller Familien fest, daß ihre selbstgebauten Behausungen dadurch zu Ställen degradiert wurden. Außerdem, und da liegt der springende Punkt, wurde das Selbstbauen rechtlich benachteiligt. Jetzt war es legal nicht mehr möglich, ohne Vorlage der Pläne eines akkreditierten Architekten mit dem Hausbau zu beginnen. Brauchbare Abfälle und Schrott aus Caracas, die bis dahin wiederverwendet wurden und ein hervorragendes Baumaterial abgaben, verursachten jetzt Probleme der Abfallbeseitigung. Der Mann, der sein eigenes Dach über dem Kopf baut, wird als Abweichler verachtet, der sich weigert, mit der lokalen pressure group von Lieferanten massenproduzierter Wohneinheiten zu kooperieren. Auch wurden zahllose Bestimmungen erlassen, die seinen Einfallsreichtum als illegal, ja sogar kriminell brandmarken.
Dieses Beispiel zeigt, daß als erste die Armen zu leiden haben, sobald eine neue Ware eine der traditionellen Subsistenztätigkeiten blockiert. Die 'schöpferische Arbeitslosigkeit‘ der Unbeschäftigten wird der Expansion des Arbeitsmarktes geopfert. 'Wohnen' als selbstgewählte Aktivität wird, wie jedes andere Recht auf nützlich verwandte Freizeit, zum Privileg einiger abweichender, oft müßiger Reicher.
Die Sucht nach lähmendem Überfluß, Sobald sie eine Kultur erfaßt, erzeugt die 'modernisierte Armut‘. Dies ist eine Form von gesellschaftlichem Unwert, die unausweichlich mit der allgemeinen Ausbreitung der Waren verbunden ist. Dieser sinkende Grenznutzen der industriellen Massenprodukte ist der Aufmerksamkeit der Ökonomen entgangen, weil er mit Hilfe ihrer Meßverfahren nicht feststellbar ist; und der Grenznutzen der sozialen Dienstleistungen entzog sich ihnen, weil er nicht operationalisierbar ist. Die Ökonomen verfügen über kein geeignetes Kriterium, um eine Befriedigung, für die es kein Markt-Äquivalent gibt, in ihre Kalkulationen einzubeziehen. Die heutigen Wirtschaftler sind blind gegenüber dem Hauptresultat aller modernen Systeme - ganz gleich, ob Ost oder West: nämlich der Abwertung der individuell persönlichen Fähigkeit, etwas zu tun oder zu schaffen, die der Preis jedes zusätzlichen Quantums an Warenüberfluß ist.
Die Existenz und der besondere Charakter der modernisierten Armut blieben - sogar in der Alltagskonversation – verborgen, solange diese nur die Armen betraf. Als die Entwicklung oder Modernisierung die Armen erreichte - die bis dahin zu überleben wußten, obgleich sie von der Marktwirtschaft ausgeschlossen waren -, wurden diese systematisch gezwungen, dadurch zu überleben, daß sie sich in ein Wirtschaftssystem einkauften, das für sie immer und unvermeidlich bedeutete, sich mit den Abfällen des Marktes begnügen zu müssen.
Indianer in Oaxaca, die vordem keinen Zugang zu Schulen hatten, werden jetzt in Schulen rekrutiert, nur um sich Zeugnisse zu ‚verdienen‘, die nichts anderes als ihre Inferiorität gegenüber der Stadtbevölkerung bestätigen. Außerdem - und dies ist wieder der springende Punkt - können sie sich ohne dieses Papier nicht einmal mehr im Baugewerbe verdingen. Die Modernisierung der ‚Bedürfnisse‘ schafft immer eine zusätzliche Diskriminierung der Armut.
Die modernisierte Armut ist heute eine allgemeine Erfahrung und ausgenommen sind davon vielleicht nur jene, die reich genug sind, um im Luxus als Dropouts zu leben. Und während ein Aspekt des Lebens nach dem anderen von technisch geplanten Angeboten abhängig wird, entgehen nur die wenigsten der immer wiederkehrenden Erfahrung erneuter Ohnmacht. Der amerikanische Durchschnittskonsument wird täglich von Hunderten Annoncen bombardiert, und er reagiert darauf zumeist negativ.
Sogar gutbetuchte Käufer machen mit jeder erworbenen Ware erneut die Erfahrung ihres schwindenden Nutzens und ihrer rapiden Entwertung. Sie argwöhnen, irgend etwas von zweifelhaftem Wert erworben zu haben, das sich gar bald als nutzlos, womöglich als gefährlich erweisen könnte; etwas, das jedenfalls den Erwerb immer teureren Zubehörs verlangt. Auch reiche Käufer organisieren sich: meist beginnen sie mit der Forderung nach Qualitätskontrolle, und nicht selten landen sie bei der Konsumverweigerung. Hinter den urbanen Fassaden von New York und Chicago schalten sich Slumbewohner von der Versorgung durch öffentliche Dienste und Sozialarbeiter ab, und Hinterwäldler in Kentucky pfeifen auf die Schulfibeln. Reiche wie arme sind beinah bereit, die neue Form frustrierenden Wohlstands in der weiteren Expansion einer marktintensiven Kultur klar zu erkennen. Im Spiegel der Armut spüren auch die Reichen ihre eigene Not. Im Augenblick aber haben diese ersten Anzeichen sich noch nicht über einen gewissen Romantizismus hinaus entwickelt.
Auszug aus: Ivan Illich "Forschrittsmythen" - Aufsatz "Schöpferische Arbeitslosigkeit - oder die Grenzen der Vermarktung"
Rowohlt Taschenbuch 1983