Gleich zwei rege besuchte Veranstaltungen beleuchteten die gerade seit einem Monat gültige steirische Mindestsicherung und zeigten, dass nicht nur ein großes Informationsdefizit besteht, sondern auch große rechtliche Unsicherheiten.
Kein Recht auf Gesundheit in der Mindestsicherung?
Im Sozialmedizinischen Zentrum Liebenau stand am Montag, 4.4.2011, "Krankheit und Mindestsicherung" auf dem Tapet. Erich Kaliwoda Abteilungsleiter für Rechtsangelegenheiten am Sozialamt Graz sah den größten Vorteil der Mindestsicherung darin, dass nun automatisch alle sofort in die Krankenversicherung aufgenommen würden und einen ähnlichen Status wie AusgleichszulagenbezieherInnen (MindestpensionistInnen) hätten. Der Nachteil: Es gibt weder Geld aus dem Unterstützungsfonds der Pensionsversicherungsanstalt noch aus dem Unterstützungsfond der Gebietskrankenkassa. Auch beim Selbstbehalt für Heilmittel und bei Krankenhausaufenthalten haben MindestsicherungsbezieherInnen nun das Nachsehen, weil im Gegensatz zur Sozialhilfe diese Kosten nicht mehr übernommen würden. Die Sozialhilfe bestehe zwar weiterhin, aber wer Mindestsicherung beziehe könne keine Leistungen aus der Sozialhilfe erhalten. "Früher konnten wir Zusatzbedarf abdecken, jetzt nicht mehr. Die Mindestsicherung hat Überraschungen gebracht, mit denen wir täglich konfrontiert sind", so Kaliwoda.
Bei der Psychotherapie, wo nur ein beschränktes Kontingent von der Krankenkassa gezahlt wird, müssen MindestsicherungsbezieherInnen lange warten, weil es für diese keine extra Angebote gibt. Und wer länger ins Krankenhaus muß, geht ein finanzielles Risiko ein, denn nach 14 Tagen Krankenhausaufenthalt wird der Mindestsicherungsbezug auf 37% reduziert: 25% Wohnkostenanteil + 12% Taschengeld macht ca. 200 Euro im Monat.
Anhand von zwei Praxisbeispielen zeigte Larissa Schuhmeyer vom Sozialmedizinischen Zentrum die Fallen der Mindestsicherung auf. Was tun mit einem 43jährigen Klienten, der je 50 Euro Unterhalt für zwei Kinder zahlt, psychisch instabil sei, über längere Zeit keiner geregelten Arbeit nachgegangen ist, laut ärztlichen Gutachten arbeitsfähig aber nicht vermittelbar sei?
Kaliwoda räumte ein, ideal sei ein Anspruch nach Behindertengesetz, Pferdefuss: Dann könnten aber wieder keine Leistungen aus der Mindestsicherung bezogen werden. Da es das im Gesetz vorgesehene Case Management wegen Budgetkürzungen nicht kommt, könne er den Mann nur zum AMS schicken.
Rainer Possert als Arzt am sozialmedizinischen Zentrum konterte: seine Klienten erlebten die AMS-Maßnahmen oft als Zwangsmaßnahmen, die kontraproduktiv seien.
Ebenso ratlos die Runde beim zweiten Fall: Ein an Suchterkrankung leidender gehe in stationäre Therapie. Effekt: dessen Bezug fällt in der dritten Woche auf 37,5%.
Konklusio der Expertenrunde: Die Mindestsicherung bringe für jene, die sowieso schon unter psychischen oder chronischen Krankheiten leiden massive Benachteiligungen. Neben finanziellen Verlusten drohen diese Menschen zudem im bürokratischen Getriebe zwischen AMS, Sozialamt und Pensionsversicherungsanstalt aufgerieben zu werden. Das sozialmedizinische Zentrum werde zwar kaum von den Budgetkürzungen um 25% betroffen sein, der Beratungsbedarf aber steige.
"Wir sind sozialpsychiatrische Endstation. Dieses Problem wird zunehmen, wenn nicht einmal der Selbstbehalt bei Krankenhausaufenthalt geklärt ist, was tun wir bei Krebst, bei einer Chemotherapie?" sieht Possert abschliessend recht trübe Aussichten für das Menschenrecht auf Gesundheit unter dem Mindestsicherungsregime. Menschen der höchsten Einkommensschicht hätten eine um 6 bis 7 Jahre längere Lebenszeit als jene der untersten Einkommensschichten. Diese Schere werde in Zukunft weiter auseinander klaffen.
Selbstgefällige Menschenrechtsstadt: Kein Recht auf Existenzsicherung, kein Datenschutz, wenig Information ...
Ebenso wenig erfreuliches brachte die Informationsveranstaltung der Stadt Graz am kommenden Tag im Grazer Rathaus zu Tage. Sozialstadträtin Martina Schröck (SPÖ) beklagte in ihren Einleitungsstatement zwar die finanziellen Verluste für die MindestsicherungsbezieherInnen, meinte eher resignierend "wir GrazerInnen können die Gesetze nur ausführen und Anregungen an den Gesetzgeber Land geben". So seien immerhin zwei positive Änderungen erreicht worden: Die Wohnbeihilfe werde nicht mehr als Einkommen angerechnet und bei Wohngemeinschaften sei ein flexiblere Handhabe möglich.
Gernot Wippel, Abteilungsvorstand des Sozialamtes der Stadt Graz, bedauerte, dass die ursprünglichen Ziele nicht erreicht würden, weil die Rahmenbedingungen komplett fehlen würden: Die Clearingstellen für die Arbeitsfähigkeit fielen dem Sparstift zum Opfer und man wisse nicht, ob Maßnahmen zur Eingliederung ins Berufsleben tatsächlich wirken würden. Die verstärkte Verschränkung mit dem AMS, der intensive Datenaustausch solle mittelfristig die Verweildauer in der Mindestsicherung deutlich verkürzen. Gernot Wippel zeigte zum Schluss immerhin Verständnis dafür, dass die MindestsicherungsbezieherInnen nun nicht verstehen würden, dass sie nun weniger bekommen.
Erich Kaliwoda von der Stabsstelle für Rechtsangelegenheiten ging auf zahlreiche Detailprobleme wie Anspruchsvoraussetzungen, Wohnbeihilfe etc. ein.
Franz Ferstl, Leitung des Referates für Mindestsicherung und Sozialhilfe brachte als Abrundung einige Berechnungsbeispiele und zeigte die komplexen Berechnungsregeln auf, die bei gleicher Familienkonstellation je nach dem wer den Antrag stelle, sogar zu unterschiedlichen Bezugshöhen führen könne.
Auf einige grundlegenden Probleme konnten die gut bezahlten Herren vom Magistrat keine befriedigenden Antworten geben. Vor allem die Frage, wie denn mensch überleben solle, wenn der Bezug für den Lebensunterhalt um 50% oder gar im Wiederholungsfalle um 100% gekürzt werde, wenn das AMS "Arbeitsunwilligkeit" vorwerfe. Auffallend in der Diskussion: Die Sozialstadträtin fühlte sich nicht wirklich angesprochen, und überließ de facto alle Detailprobleme dem Verwaltungsapparat, wenngleich sie auf Nachfrage durch Wolfgang Schmidt vom Arbeitslosenverein AMSEL zumindest mit einem Satz ihre Unbehagen an den Bezugskürzungen ausdrückte.
Wippel meinte schlicht, Bezugskürzungen verfolgten den Zweck der Disziplinierung. Wenn jemand nicht tue, was einem aufgetragen werde, wie die Einhaltung von "Vereinbarungen", müsse es eine Möglichkeit geben, ihn dazu zu zwingen. "Wenn die Auflagen wieder erfüllt werden, werden die Kürzungen aufgehoben" sah er die Dinge recht einfach.
Daß der Verfassungsgerichtshof bereits beim Arbeitslosenversicherungsgesetz die generelle Verweigerung der im Allgemeinen Verwaltungsgesetz vorgesehen aufschiebenden Wirkung von Berufungen gegen Bescheide (über Bezugskürzungen) als verfassungswidrig aufhob, irritierte die Herrn Beamte keineswegs.
Datenschutz war auch so ein Fremdwort: Erich Kaliwoda freute sich gar, dass sie nun mit Einführung der Mindestsicherung nun direkt via Internet auf die Daten im AMS-Computer zugreifen könnten und nachschauen können, hat ein Arbeitsloser Termine eingehalten. "Wir haben den Vorteil rascher Ermittlungsverfahren." Darüber, dass das AMS nur bestimmte Daten auf konkrete Anforderung bzw. bei konkreten Anlässen weiter geben darf und nicht ein zielloses herumstierdeln in den nicht strukturierten Daten ermöglichen darf, darüber verschwenden die Schreibtischtäter keinen Gedanken. Auch nicht, dass im steirischen Mindestsicherungsgesetz, im Gegensatz zu den anderen Landesgesetzen, erst gar keine konkrete Regelungen dieser Datenübermittlungen zu finden sind.
Dass es den Betroffenen schwer fällt, ihr Recht durchzusetzen, wenn sie damit ihre eigene Existenz gefährden ist offenbar egal. Da nutzt auch der Unabhängige Verwaltungssenat wenig, wenn es da keine Rechtshilfe gibt. "Beim UVS herrscht kein Anwaltszwang, daher brauche ich keine Vertretung" zeigen die Beamten wenig Verständnis für die Recht suchenden BürgerInnen.
Laut Wippel dienen die innerdienstlichen Anweisungen zur Kronkretisierung der doch recht unbestimmten Gesetze. Aber veröffentlichen will Wippel diese Anweisungen nicht, denn sie hätten doch keinen "Öffentlichkeitswert". Aber zuvor betonte er, dass das Verfahren mit größtmöglicher Transparenz gemacht werde.
Eine offenere Informationspolitik wurde nicht in Aussicht gestellt. Die in den Veranstaltungen genannten am 3.3.2011 beschlossene Verordnungen, wo die Wohnbeihilfe und der Umgang mit Wohngemeinschaften geregelt seien, konnte nun einen Monat nach deren Beschluss noch immer nicht via Internetrecherche gefunden werden. Selbst Karin Gruber, Sozialarbeiterin bei der KPÖ, hatte diese auf Nachfrage nicht ...
Was genau mit den MindestsicherungsbezieherInnen, die ja wieder in den Arbeitsmarkt, der keine Jobs bietet, integriert werden sollen, weiter geschehen soll, darüber scheint man sich noch nicht den Kopf zu zerbrechen. Die Verwaltung ist schon froh, nun endlich mit dem Bearbeiten der rund 2.000 neuen Anträge pro Monat nachzukommen. Anfang April hätten nun 1.300 Menschen neuen Bezug bekommen.
Auffallend war, dass die zahlreich anwesenden SozialarbeiterInnen auf grundsätzliche Einwürfe nicht reagierten und in ihren Fragen sich auf mehr verwaltungstechnische Aspekte des Geldbezuges, der Berechnung, des BezieherInnenkreises beschränkten und eine grundsätzliche politische Diskussion mieden.
Ein tieferes Verständnis der Menschenrechte, der Menschenwürde scheint in der Menschenrechtsstadt Graz hier nicht vorzuherrschen. Zwei Wochen zuvor wurde in einer mehr internen Diskussionsveranstaltung von Politik und Verwaltung im Stadtmuseum am Vormittag (sic!) des 24.3.2011 10 Jahre Menschenrechtsstadt Graz gefeiert und von Bürgermeister Siegfried Nagl dem Menschenrechtsbeirat als "Anschubfinanzierung" gerade eine einmalige Spende der Stadt Graz von 10.000 Euro mitgegeben. Damit werden die Menschenrechte aber nicht weit kommen in Graz. Und bei der Umsetzung der Mindestsicherung wird das Menschenrechtsinstitut „European Training Centre – etc“ als Beratungs- und Kontrollinstanz erst gar nicht einbezogen, geschweige denn die Betroffenen selbst ...
Ing. Mag. Martin Mair
Obmann "AKTIVE ARBEITSLOSE"