Sehr geehrte Frau Ecker, sehr geehrte Herren Van der Bellen, Pickl-Herk
Mit großem Erschrecken lese ich die „Beschäftigungsanreize und Effizienz in der Arbeitslosenversicherung“ aus Ihrem Regierungsprogramm ÖVP-FPÖ 2017. Ich schreibe Ihnen aus Deutschland als ehemalige Jobcenter-Mitarbeiterin in Deutschland und ehemalige Abgeordnete der Hamburgischen Bürgerschaft mit dem Schwerpunkt Arbeitsmarktpolitik.
Ich möchte Sie bitten Ihren Blick mit dem Beginn der „Agenda 2010“ in 2003 und den darauf folgenden negativen Veränderungen der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik nach Deutschland zu richten. Unsere derzeitige „geschäftsführende“ Regierung sowie unsere vergangenen Regierungen, u.a. unter rot-grün und schwarz-rot propagieren eine sinkende Arbeitslosigkeit und ein Wirtschaftswachstum. Dieses wohl auch Dank der „Agenda 2010“.
Mal ein paar Fakten:
2017 bezogen 4.374.253 Menschen Arbeitslosengeld II (Hartz IV)
2017 bezogen 1.702.394 Menschen Sozialgeld ( = nicht erwerbsfähige Menschen, sofern mindestens eine Person Arbeitslosengeld II bezieht; Tendenz steigend)
Rund 1,6 Mio. Kinder bezogen Ende 2016 Hartz IV (Tendenz steigend) davon sind rund 522.000 Kinder länger als vier Jahre in Hartz IV
Die Armutsgefährdungsquote ist seit 2005 bis Ende 2016 von 14,7% auf 15,7% in Deutschland gestiegen
Rund 1,1 Mio. Menschen stocken ihren Lohn mit Arbeitslosengeld II auf, weil der Lohn zum Leben nicht ausreicht
Deutschland besitzt über 900 „Tafeln“, in denen über 1,5 Mio. verarmte Menschen (Hartz IV, RentnerInnen, GrundsicherungsleistungsbezieherInnen) ihren Lebensmittelbedarf decken (müssen)
Knapp eine Million Menschen werden regelmäßig aus der offiziellen Arbeitslosenstatistik herausgerechnet, weil sie sich in Maßnahmen befinden, krank geschrieben sind oder über 58 Jahre jung sind usw.
Die Dunkelziffer der nicht gemeldeten, jedoch Leistungsberechtigten nach dem Arbeitslosengeld II oder Grundsicherung, wird auf bis zu 4 Mio. geschätzt
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Inzwischen kann Arbeitslosigkeit jeden treffen und die vielmals gültige Regelung, dass nach zwölf Monaten Arbeitslosengeld I Hartz IV folgt, wurde für viele traurige Realität. Die „Agenda 2010“ hat, auch durch die Medien, ein Bild geschaffen, dass Erwerbslose „faul“ und „schmarotzend“ seien. Allerdings wird gerne vergessen, dass es auch in Deutschland für die Millionen von Erwerbslosen nicht ausreichende Arbeitsplätze vorhanden sind. Von einem sog. Mini-Job kann weder ein Single noch geschweige eine Familie leben. Der ausufernde Niedriglohnsektor, als eigentliche Intention der Agenda 2010, hat die Armut und den Bezug von Arbeitslosengeld II verstärkt. Ich nenne dieses keinen Fortschritt, sondern einen Rückschritt, den Sie nun ebenfalls in Österreich einführen wollen. Ihr Regierungsprogramm, Ihre Pläne zeugen von „Augen zu und durch“ und das auf Kosten Ihrer Bürgerinnen und Bürger.
Die „Agenda 2010“ hat in Deutschland ein Klima der Angst geschaffen. Und das nicht nur bei den Erwerbslosen, sondern vielmehr auch bei denen, die sich noch in Arbeit befinden. Die Angst vor der Stigmatisierung, vor der Armut, vor dem Verlust des bereits aufgebauten Vermögens oder der zukünftigen Rentenabsicherung ist so groß, dass man lieber an der derzeitigen Tätigkeit festhält, als in Hartz IV abzurutschen. Und sei die Tätigkeit von den (Arbeits)-Bedingungen noch so prekär. Das derzeitige Sanktionsregime in den Jobcentern verstärkt diese Angst ebenfalls.
Unser gegenwärtiger Sozialstaat und die Jobcenter fungieren als ein paternalistischer Erziehungsstaat, der seine Leistungsberechtigten zum gesellschaftlichen Wohlverhalten antreibt – und sei es mit Sanktionen. Sanktionen oder deren Androhung führen weiterhin in der Regel nicht zu einem positiven Effekt, sondern eher zu einer Spaltung zwischen der Zusammenarbeit des Betroffenen und Jobcenter. Der Kontakt wird abgebrochen, die Betroffenen entziehen sich der administrativen Betreuung und entschwinden so aus der Statistik. Ein positiver Arbeitsmarkt statistischer Nebeneffekt und vielleicht auch ein gewollter. Energie, Zeit und zum Teil Gesundheit müssen aufgewendet werden, um den Überlebenskampf, welcher durch Sanktionen hervorgerufen wird, zu schaffen. Von einer sozialen Inklusion kann hier nicht gesprochen werden, sondern vielmehr von einer sozialen Exklusion, deren individuellen, und gesellschaftlichen negativen Effekte kaum absehbar sind. Und alleine aus diesen Gründen ist jede Sanktion eine zu viel und verstößt für mich weiterhin gegen die absoluten, unabdingbaren Rechte des Menschen: Menschrechte und Menschwürde.
Menschrechte gelten für alle ohne Vorbehalt. Sie können nicht an Bedingungen, wie regelkonformes Verhalten, geknüpft werden. Das gilt auch in und für Österreich. Ihre geplanten Veränderungen spiegeln jedoch das Gegenteil wider. Sie wollen ein System installieren, bzw. kopieren, was den Erhalt eines vordergründigen negativen Menschenbildes darstellt und auf Druck aufgebaut ist. Nicht nur gegen Betroffene, sondern auch in Zukunft für die Noch-Nicht-Betroffenen. Sie irren, wenn Sie der Meinung sind, dass Bestrafungen oder Verschärfungen ein positives Bild, Handeln, Denken oder eine Kooperation fördert. Sie befinden sich hier in der zentralen normativen Frage, wie eine wohlhabende Gesellschaft (noch sind Sie das), mit ihren schwächsten Mitgliedern umgeht. In einer Erwerbsgesellschaft sind die schwächsten Mitglieder zunächst die Erwerbslosen.
In einer Gesellschaft sind es Menschen mit Behinderung, Geflüchtete, Migranten, Alte, chronisch Kranke und Kinder. Nach über 15 Jahren „Agenda 2010“ kann ich nur sagen: Von einem zivilisationsangemessenen Umgang kann derzeit nicht gesprochen werden. Eher ist es ein Abschreckungsregime, was teilweise zu Bundes- und Kommuneneinsparungen führt, jedoch nicht zu dem was es führen sollte: Die erfolgreiche dauerhafte Integration in den Arbeitsmarkt und der damit verbundenen Inklusion. Das wurde systematisch verfehlt. Sie sind nun auf dem besten Weg dorthin erlangte Menschenrechte mit Füßen zu treten, auszuhebeln und die Armut in Ihrem Land zu steigern. Die „Agenda 2010“ ist ein zutiefst inhumanes System voller Widersprüche und entmündigt die Menschen und deren Angehörige in den Bedarfsgemeinschaften. Die damalige Reform hat inzwischen eine politische Brisanz entwickelt, die es nötig macht, es von allen Seiten zu beleuchten und positiv für die Menschen zu verändern. Nicht Rückschritt sollte im Fokus stehen, sondern menschlicher und arbeitsmarktpolitischer Fortschritt. Mit Ihren Plänen sind Sie davon weit entfernt. Quellen zu den Auswirkungen der deutschen Arbeits- und Sozialpolitik finden sich genügend im Netz.
Mit freundlichen Grüßen
Inge Hannemann